Entscheidung Nr. WA2/2007

Antrag

 

AntragstellerIn, Status

Alice M., Empfehlung
Nona S., Empfehlung
Alice T., Empfehlung

Öffentliches Eigentum

Stadt Wien

Vermögensart

unbeweglich

Liegenschaft/en in

KG Neulerchenfeld (01403), Wien, Wien | auf Landkarte anzeigen

Entscheidung

 

Nummer

WA2/2007

Datum

09.10.2007

Gründe

"Extreme Ungerechtigkeit" iSd § 32 Abs 2 Z 1 EF-G
Frühere Entscheidung wegen neuer Beweise/Tatsachen iSd § 21a Abs 1 GVO aufgehoben

Typ

materiell

Anonymisierter Volltext

Verbundene Entscheidungen

Pressemitteilung

Pressemitteilung Entscheidung WA 2/2007

Wien, Ottakring
Die Schiedsinstanz für Naturalrestitution hat am 9. Oktober 2007 den Rückstellungsanspruch auf eine der Stadt Wien gehörende Liegenschaft in Wien/Ottakring anerkannt, nachdem sie im Februar 2006 den Restitutionsantrag abgelehnt hatte. Durch die Vorlage neuer Dokumente waren Tatsachen bekannt geworden, die zu dieser von der ersten Entscheidung abweichenden Beurteilung des Falles führten. Die Schiedsinstanz beurteilte einen 1953 abgeschlossenen Rückstellungsvergleich nunmehr als „extrem ungerecht“, da die damaligen Rückstellungswerberinnen bei Vergleichsabschluss in ihrer Willensfreiheit eingeschränkt waren und zwischen der Vergleichssumme und dem, was ihnen zugestanden wäre, eine große Wertdifferenz bestand.

Die beantragte Liegenschaft, die mit einem einstöckigen Zinshaus bebaut war, befand sich 1938 im Eigentum von Antonie L. und Mali B., die beide im Sinne der Nürnberger Gesetze von 1935 als Jüdinnen galten. Im November 1938 verkauften sie die Liegenschaft um den Preis von 12.000,- Reichsmark an das Ehepaar W., wohingegen die NS-Behörden den Wert der Liegenschaft mit 17.000,- Reichsmark geschätzt hatten. Mali B. konnte im März 1939 ins Ausland flüchten. Antonie L. wurde im März 1941 in das Ghetto Modliborzyce deportiert. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Antonie L. wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für tot erklärt.

Im Juli 1950 beantragten Mali B. und Martha L., die Erbin nach Antonie L., die Rückstellung der Liegenschaft. Im März 1953 beendeten die Parteien dieses Verfahren mit einem Vergleich. Die Rückstellungswerberinnen verzichteten gegen eine Zahlung von 6.000,- Schilling auf die Rückstellung der Liegenschaft. Das Grundstück blieb somit im Eigentum des Ehepaares W., die Liegenschaft nach einer partiellen Sanierung des bombengeschädigten Hauses im Dezember 1958 um 180.000,- Schilling an die Stadt Wien verkaufte. Diese ließ das Zinshaus Anfang der 1960er-Jahre demolieren und errichtete auf der Liegenschaft und den angrenzenden Grundstücken ein Schulgebäude.

Die Schiedsinstanz musste sich im Detail mit dem früheren Rückstellungsverfahren auseinandersetzen, da ein Aufrollen von durch Vergleich beendeten Fällen nach dem Entschädigungsfondsgesetz nur in Ausnahmefällen möglich ist. Sie hatte insbesondere zu prüfen, ob zwischen den Parteien im Rückstellungsverfahren annähernd „Waffengleichheit“ geherrscht hat.

Da die Rückstellungswerberinnen anwaltlich vertreten waren, Martha L. in Österreich wohnte und es auch sonst keine Indizien für einen Informationsvorsprung des Ehepaares W. gab, lagen der Schiedsinstanz zunächst jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Einschränkung der Willensfreiheit vor. Darüber hinaus konnte der Liegenschaftswert zum Vergleichszeitpunkt nicht festgestellt werden. Sie hat daher diesen Vergleich in der Entscheidung 46/2006 nicht als „extrem ungerecht“ beurteilt.

Die Erbinnen nach Martha L. und Mali B. stellten einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Sie verwiesen dabei darauf, dass Martha L. infolge ihrer durch die deutschen Raketenangriffe auf London im Jahr 1944 ausgelösten Traumatisierung in ihrer Willensfreiheit eingeschränkt war, was sie mit einer eidesstattlichen Erklärung belegten und von der Erstantragstellerin in einer Anhörung vor der Schiedsinstanz auch glaubhaft bestätigt wurde. Im ersten Verfahren war dieser Umstand nicht vorgebracht worden, da für die Antragstellerinnen nicht erkennbar war, dass er entscheidungsrelevant sein würde.

Die Schiedsinstanz sah einen Wiederaufnahmegrund im Sinne ihres im Jänner 2007 eingeführten Rechtsbehelfs gegeben und entschied zunächst, die Entscheidung 46/2006 aufzuheben und über den Restitutionsantrag neu zu entscheiden.

Eine rechtliche Prüfung der neuen Tatsache ergab, dass die damaligen Rückstellungswerberinnen bei Vergleichsabschluss im Jahr 1953 in ihrer Willensfreiheit eingeschränkt waren, da genügend Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass Martha L. psychisch beeinträchtigt war und Mali B. sich in einer wirtschaftlich sehr angespannten Situation befand.

Im Zuge weiterer zur Unterstützung der Antragstellerinnen durchgeführter Recherchen fand die Schiedsinstanz Dokumente, die die Schlussfolgerung erlaubten, dass die Liegenschaft zum Vergleichszeitpunkt mindestens 30.500,- Schilling wert war. Zwischen der Vergleichssumme von 6.000,- Schilling und dem Gegenwert dessen, was den Rückstellungswerberinnen in einem Erkenntnis der Rückstellungskommission zugesprochen worden wäre – im für diese ungünstigsten Fall etwa 22.700,- Schilling – bestand demnach eine gewichtige Wertdifferenz.

Aufgrund der großen Wertdifferenz und der beeinträchtigten Willensfreiheit bei Abschlus des Vergleichs war dieser als „extrem ungerecht“ einzustufen. Die Schiedsinstanz sah daher den Anspruch der Erbinnen von Martha L. und Mali B. als dem Grunde nach zu Recht bestehend an. Da sich auf dieser Liegenschaft heute ein Schulgebäude befindet, erachtet die Schiedsinstanz eine Rückstellung als nicht zweckmäßig und wird nach Konsultationen mit der Stadt Wien empfehlen, einen vergleichbaren Vermögenswert zuzusprechen.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmter Text, der die Schiedsinstanz nicht bindet.
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